Erbbrauch und ungeregelter Nachlass

  • Es wurde ein Antrag auf Einziehung eines vom hiesigen Nachlassgericht 1939 erteilten Erbscheines wegen Unrichtigkeit gestellt. Die materiellrechtliche Grundlage für die Erbscheinserteilung war das seinerzeit geltende Reichserbhofgesetz (REG).
    Der Fall ist äußerst kurios.
    Die nach dem Anerbenrecht des REG in Frage kommenden beiden Söhne des Verstorbenen Bauern waren 8 und 10 Jahre alt. Die Witwe und Mutter der beiden Söhne legte dem damaligen Nachlassrechtspfleger eine Bescheinigung eines Ortsbauernführers vor, nach der in der Gegend des Erbhofes Jüngstenrecht gilt. Hiernach erteilte die Rechtspflegerin nach § 21 Abs. 3 REG den Erbschein zugunsten des jüngeren Sohnes, der auch ins Grundbuch eingetragen wurde. Es handelt sich um einen in Thüringen gelegenen Erbhof. Die Kinder selbst erfuhren bis zum Tode ihrer Mutter im Jahr 1987 nichts von diesem Erbschein. Die Mutter hatte sie in dem Glauben gelassen, dass gesetzliche Erbfolge eingetreten sei, wonach sie den Hof letztlich zu gleichen Teilen erben würden. Nun spielte das Leben auch noch so, dass der jüngere Bruder von klein auf kein Interesse an der Landwirtschaft zeigte. Die Entwicklung nahm ihren Lauf und der ältere Bruder hielt den Hof mit seiner Familie in Ordnung bzw. bewirtschaftete ihn. Der jüngere Bruder war auf dem Hof lediglich geduldet, sie waren wohl auch zerstritten.
    Als man nach dem Tod der Mutter einen Grundbuchauszug benötigte, erfuhr der jünger Bruder erstmals von seiner Eigentümerstellung. Er strengte eine Räumungsklage an, die mit einem dauerhaften Wohnrecht für die Familie des älteren Bruders endete.
    Daraufhin trug der ältere Bruder in akribischer Weise alle in der Gegend um den Hof zwischen 1911 bis etwa 1967 eingetretenen Erbfälle zusammen, in denen ein Hof ungeteilt i.S. des REG an mehrere Söhne vererbt worden war. Er bzw. sein Rechtsanwalt sah hierzu Grundbücher, Kirchenbücher usw. ein. Das Ergebnis ist erstaunlich, denn etwa 68 % dieser Höfe gingen jeweils auf den ältesten über, ein nur ganz geringer Teil auf den jüngsten mehrerer Söhne
    Hier stehen nun zwei Fragen im Raum.
    Handelt es sich hier um einen ungeregelten Nachlass i.S. des Kontrollratsgesetzes Nr. 45, durch das das REG lediglich auf geregelte Nachlässe anwendbar bleibt?
    Wären im Falle der Anwendbarkeit des REG 68 % nachgewiesener Übergänge ausreichend, um von einem Brauch i.S. § 21 Abs. 3 REG sprechen zu können?
    Hatte schon jemand mit derartigen Fragen zu tun? Kennt jemand Entscheidungen, die insbesondere zur Frage ergingen, ab welcher Quote man einen Brauch annehmen kann?
    Mit freundlichen Grüßen, Udo.

  • Ich darf zunächst auf meine ausführliche Stellungnahme in dem von luise64 am 28.2.2007 eröffneten Grundbuch-Thread "Anerbenerbschein" verweisen, bei dem auch um ein Sachverhalt in Thüringen in Frage steht. Die dort in #13 Nr.3 zitierte 8. Auflage des "Soergel" aus dem Jahr 1955 enthält in den Vorbemerkungen zu § 1922 BGB eine Fülle von Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen zu der Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen von einem "geregelten Erbfall" auszugehen ist.

    Im vorliegenden Fall sind zwei Fragestellungen zu unterscheiden:

    Zum einen, ob in dem genannten Sinne ein "geregelter Erbfall" vorliegt oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage hat nur Einfluss darauf, ob auf die Erbfolge -und auch auf künftige Erbfolgen- das Erbhofrecht (bei geregeltem Nachlass) oder das allgemeine Erbrecht (bei ungeregeltem Nachlass) Anwendung findet. Ist letzteres der Fall, ist der Erbschein schon deswegen einzuziehen, weil für den vorliegenden Erbfall überhaupt kein Erbhofrecht zum Zuge kam.

    Erst wenn feststeht, dass es sich um einen "geregelten Nachlass handelt, auf den das Erbhofrecht zur Anwendung kommt, erhebt sich somit die zweite Frage, die darin besteht, ob die seinerzeit vorgelegte Bestätigung des Ortsbauernführers richtig war und ob der im Grundsatz zu Recht erteilte Anerbenerbschein die nach Erbhofrecht eingetretene Erbfolge demzufolge auch zutreffend wiedergibt.

  • Vielen Dank für die schnellen Hinweise. Nach der Literatur und den zum geregelten/ungeregelten Nachlass ergangenen Entscheidungen liegt hier sehr wahrscheinlich ein geregelter Nachlass vor, sodass "lediglich" noch die Frage offensteht, ob 68 % (sofern diese einer Überprüfung standhalten) ausreichen, um einen Brauch i.S. § 21 Abs. 3 REG annehmen zu können.
    Nach einer Reichserbhofsgerichtsentscheidung aus dem Jahre 1935 (Jurist.Wochenschrift, 35, 1790) ist Ältestenrecht als der in einer Gegend herrschende Brauch anzusehen, wenn es in der bäuerlichen Bevölkerung der jeweiligen Gegend auf Grund eines entsprechenden, als verpflichtend empfundenen Herkommens allgemein oder mindestens überwiegend üblich war, den ungeteilten Hof auf den Ältesten zu übertragen.
    Merkwürdig ist, dass ich in den seit Inkrafttreten des Kontrollratsgesetzes Nr. 45 erschienenen Neuen Jurist. Wochenzeitschriften (=Nachfolger der Jurist.Wochenschrift) nicht eine Entscheidung über die Frage des Erbbrauches finden konnte. Es kann doch nicht sein, dass seit 1947 nirgendwo Streit über die Frage, welcher Erbbrauch besteht oder bestand, entschieden werden musste?

    Udo

  • Was nach meinem Dafürhalten noch nicht genügend beachtet wurde, ist, dass es nach der zitierten Entscheidung des RG (NJW 1935, 1790) für einen Brauch i.S. des § 21 Abs.3 REG nicht ausreichend ist, dass Erbhöfe in der Regel an den ältesten Sohn übergeben wurden, sondern dass dies aufgrund eines als verpflichtend empfundenen Herkommens erfolgt.

    Das RG wörtlich:

    Der Umstand, dass der Älteste in der Regel tatsächlich den Hof bekommen hat, genügt allein zur Feststellung eines Ältestenrechts nicht. Die gewohnheitsmäßige Übertragung des Hofes auf den Ältesten muss als eine Art Zwang gelten, von dem nur in besonderen Fällen abgewichen werden kann; die Hofesübertragung an den Ältesten darf nicht auf freier Entschließung des Bauern beruhen. Bestimmt der Hofbesitzer in freier Wahl den Ältesten zum Nachfolger, so besteht freies Bestimmungsrecht des Bauern, nicht ein Brauch im Sinne des Ältestenrechtes.

    Dies bedeutet, dass alleine die Feststellung, wonach 68 % der Erbhöfe an den ältesten (und nur wenige an den jüngsten) Sohn übergeben wurden, für sich alleine keinen Brauch i.S. des § 21 Abs.3 REG belegen kann. Denn diese zahlenmäßige Feststellung besagt für sich alleine nur, dass die Höfe in der Regel an den ältesten Sohn übergeben wurden, nicht aber, ob die betreffenden Übergaben auf der freien Entscheidung der Bauern oder auf einem in der Gegend üblichen und von den Bauern als Verpflichtung empfundenen Brauch beruhte. Demzufolge hat das Reichsgericht auch die bloße zahlenmäßige Mehrheit der Übergaben an den ältesten Sohn (64 zu 29) nicht als ausreichend angesehen, um alleine deshalb einen "Brauch" i.S. des § 21 Abs.3 REG zu bejahen. Pikanterweise entspricht dieses Zahlenverhältnis (64:29) exakt dem im Ausgangssachverhalt festgestellten prozentualen Verhältnis (68 %; 64 + 29 = 93; 64 : 0,093 = 68,82 %).

    Wenn ein Brauch i.S. eines Ältestenrechts nicht festgestellt werden kann, dann gilt nach § 21 Abs.3 S.2 REG nicht Ältestenrecht, sondern Jüngstenrecht (womit der Anerbenerbschein inhaltlich richtig wäre). Nach dieser gesetzlichen Zweifelsregel liegt die Feststellungslast für einen entsprechenden Brauch nicht beim jüngeren, sondern beim älteren Sohn, der seinerzeit nach § 21 Abs.3 S.3 REG einen Antrag auf entsprechende Entscheidung durch das Anerbengericht hätte stellen können. Es könnte allerdings sein, dass eine solche Entscheidung auch heute noch möglich und nach § 1 Nr.6 LwVfG vom zuständigen Landwirtschaftsgericht zu treffen wäre, weil es sich um eine Angelegenheit handelt, die mit der Aufhebung der früheren Vorschriften über Erbhöfe zusammenhängt. Sollte dies nicht der Fall sein, muss das NachlG die betreffenden amtswegigen Ermittlungen im Erbscheinseinziehungsverfahren selbst vornehmen.

    Nur interessehalber:
    Wurde der vorliegende Erbschein im Jahr 1939 denn tatsächlich schon von einer "Rechtspflegerin" erteilt?

  • Das Thüringer OLG hat bereits einige Entscheidungen zum Erbhof im Beitrittsgebiet getroffen.
    Sie treffen vielleicht nicht ganz den vorliegenden Fall, vielleicht kann man aber doch einiges daraus entnehmen.
    Da der Fall sich auf Thüringen bezieht also allemal interessant.
    Ich habe die Aufsätze über "juris" gefunden.
    Die AZ: 6 W 151/99 Beschluss vom 16.09.1999 und LWU 989/94 Beschluss vom 05.12.1996.
    Viel Spass bei der Lektüre.

  • Meine Sachverhaltsdarstellung ist insofern nicht korrekt, dass natürlich nicht der Rechtspfleger sondern der Nachlassrichter den Erbschein erteilte. Der Rechtspfleger nahm seinerzeit den Antrag auf Erbscheinserteilung auf.

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