Pflichtteilsergänzung und widerrufliches Bezugsrecht

  • Pressemitteilung des BGH vom heutigen Tage (28.04.2010):
    Nr. 89/2010

    Änderung der Rechtsprechung zur Berechnungsgrundlage
    für Pflichtteilsergänzungsansprüche nach § 2325 Abs. 1 BGB
    bei widerruflicher Bezugsrechtseinräumung im Rahmen
    von Lebensversicherungsverträgen




    Der insbesondere für das Versicherungsvertragsrecht und das Erbrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die seit Schaffung des BGB umstrittene Rechtsfrage neu beurteilt, auf Grundlage welchen Werts ein Pflichtteilsberechtigter eine Ergänzung nach § 2325 Abs. 1 BGB* verlangen kann, wenn der Erblasser die Todesfallleistung einer von ihm auf sein eigenes Leben abgeschlossenen Lebensversicherung mittels einer widerruflichen Bezugsrechtsbestimmung einem Dritten schenkweise zugewendet hat.

    Der Bundesgerichtshof hat die bisherige, auf ein Urteil des Reichsgerichts aus den 1930er Jahren (RGZ 128,187) zurückgehende und an der Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien anknüpfende Rechtsprechung aufgegeben, und entschieden, dass es allein auf den Wert ankommt, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten - juristischen - Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können. In aller Regel ist dabei auf den Rückkaufswert abzustellen. Je nach Lage des Einzelfalls kann gegebenenfalls auch ein - objektiv belegter - höherer Veräußerungswert heranzuziehen sein, insbesondere wenn der Erblasser die Ansprüche aus der Lebensversicherung zu einem höheren Preis an einen gewerblichen Ankäufer hätte verkaufen können. Dabei ist der objektive Marktwert aufgrund abstrakter und genereller Maßstäbe unter Zugrundelegung der konkreten Vertragsdaten des betreffenden Versicherungsvertrags festzustellen. Die schwindende persön-liche Lebenserwartung des Erblasseres aufgrund subjektiver, individueller Faktoren - wie insbesondere ein fortschreitender Kräfteverfall oder Krankheitsverlauf - darf bei der Wertermittlung allerdings ebenso wenig in die Bewertung einfließen, wie das erst nachträglich erworbene Wissen, dass der Erblasser zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich verstorben ist.

    Damit ist der Bundesgerichtshof einer Tendenz in Literatur und Rechtsprechung heute entgegengetreten, die - unter Berufung auf ein Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zu einer ähnliche Fragestellung im Insolvenzrecht (BGHZ 156, 350) - bei der Berechnung des Pflichtteilser-gänzungsanspruchs auf die gesamte Versicherungssumme abstellen wollte.

    In den entschiedenen Fällen haben die Kläger jeweils als enterbte Söhne des Erblassers gegen die Erben Pflichtteilsteilsergänzungsansprüche geltend gemacht, die sie auf Grundlage der ausbezahlten Versicherungsleistungen berechnen wollten. Die jeweiligen Berufungsgerichte haben die entscheidende Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet. Während das Oberlandesgericht Düsseldorf den Pflichtteilsergänzungsanspruch auf Grundlage der vollen Versicherungssumme berechnet hat, ist das Kammergericht von der - geringeren - Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien als Berechnungs-grundlage ausgegangen.

    Der Bundesgerichtshof hat beide Berufungsurteile aufgehoben und die Verfahren an die Berufungsgerichte zurückverwiesen, um den Parteien weiteren Vortrag unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung zu ermöglichen.

    Da die in der Bundesrepublik Deutschland in Lebensversicherungsverträge investierten Beträge im Milliardenbereich liegen und die widerrufliche Einräumung von Bezugsrechten ein weit verbreitetes Mittel bei der Nachlassgestaltung darstellt, wird der Entscheidung - neben der rechtlichen Bedeutung - auch erhebliche wirtschaftliche und praktische Wirkung zukommen.

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    *§ 2325 I BGB lautet: Hat der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht, so kann der Pflichtteilsberechtigten als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem nachlass hinzugerechnet wird.

    Urteil vom 28. April 2010 - IV ZR 73/08
    Landgericht Mönchengladbach - Urteil vom 29. Juni 2007 - 11 O 433/06
    Oberlandgericht Düsseldorf - Urteil vom 22. Februar 2008 - I-7 U 140707

    und

    Urteil vom 28. April 2010 - IV ZR 230/08
    Landgericht Berlin - Urteil vom 27. Juli 2007 - 8 O 90/07
    Kammergericht - Urteil vom 13. März 2008 - 16 U 35/07

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    Der BGH stellt die Pflichtteilsergänzungsberechtigten im Fall widerruflicher Bezugsrechte (insbesondere bei Lebenversicherungen) nunmehr erheblich besser. Auch wenn als Berechnungsgrundlage nicht auf die volle Versicherungssumme abgestellt wird, so ist das Abstellen auf den Rückkaufwert im Zeitpunkt des Erbfalls im Regelfall immer noch erheblich günstiger als wenn man -wie früher- lediglich auf die Summe der eingezahlten Prämien abstellt.

  • Mich wundert ein wenig, dass diese wegweisende Entscheidung kommentarlos zur Kenntnis genommen wird. Sie ist nicht nur für die anwaltliche Praxis, sondern auch für die Nachlassgerichte höchst bedeutsam. Dies betrifft nicht nur eine etwaige Belehrung über Pflichtteilsansprüche, sondern auch und insbesondere die Gebührenbewertung, weil Pflichtteilsergänzungsansprüche bei der Wertberechnung für die Erbscheins- und eV-Gebühren abzusetzen sind.

  • Meine Reaktion: gelassen zur Kenntnis genommen. Erstens weil ich der Ansicht bin dass eine Belehrungspflicht über so weit von uns entfernte Sachverhalte in diesem Umfang nicht besteht, und zum anderen, was die Gebührenberechnung angeht, da Lebensversicherungen mit Bezugsrecht im Nachlassverzeichnis nicht anzugeben sind weiß ich ja gar nicht, dass solche Ansprüche bestünden. Werden sie also nicht vom Erben vorgetragen werden sie auch nicht berücksichtigt.

    Aber mal was grundlegendes anderes: Sterbefall zB 1995, gesetzliche Erbfolge, LV geht aber per Bezugsrecht an die Nachbarin. Eigentlich wäre der Pflichtteilsanspruch ja verjährt, aber wie steht es mit der Verjährung des Ergänzungsanspruchs? Hat eine Meinungsänderung in der Rechtsprechung auswirkungen?

  • Die Entscheidungen liegen nun im Volltext vor. Sie sind falsch. Nun wird mir jeder entgegenhalten, dass ich als kleiner Rechtsanwalt nichts gegen den großen BGH bin. Aber dennoch: Der Fehler liegt bei Rn. 46 f. in der Sache IV ZR 73/08 und Rn. 47 f. in der Sache IV ZR 230/08. Dort stellt der BGH eine - ich nenne sie - 2-Sekunden-Theorie auf.

    Es gebe eine juristische Sekunde vor dem Tod des Erblassers und eine juristische Sekunde nach dem Tod des Erblassers. Die juristische Sekunde vor dem Tod des Erblassers sei für die Bewertung maßgebend und in dieser Sekunde könne der Erblasser in der Regel nur den Rückkaufswert erzielen oder die Versicherung verkaufen. In der juristischen Sekunde nach dem Tod des Erblassers erhalte der Bezugsberechtigte den dann vollwertigen Anspruch auf die Versicherungssumme.

    Diese Ansicht führt zu einem unlösbaren Widerspruch zu der Rechtsprechung bei der Schenkung unter Nießbrauchsvorbehalt, bei der im Todesfall der erloschene Nießbrauch unberücksichtigt bleibt.

    Richtigerweise gibt es nur eine juristische Sekunde im Todesfall. In dieser Sekunde entsteht der vollwertige Anspruch des Erblassers auf die Versicherungssumme und in dieser Sekunde geht er auf den Bezugsberechtigten über. Und eben diese Sekunde ist nach § 2325 II 2, 1.HS BGB für die Bewertung maßgebend.

    So ganz wohl war dem BGH dabei wohl auch nicht. Er erkennt den Widerspruch, löst ihn aber nicht, sondern versucht ihn als vermeintlichen Widerspruch abzutun.

  • Wenn es mir als Rechtspfleger gestattet ist, den BGH in der Luft zu zerreisen, dann kann man es Dir auch nicht übel nehmen.

    Deine Bedenken halte ich indes für unbegründet. Bei der Lebensversicherung mit widerruflichem Bezugsrecht geht es darum, was den Gegenstand der zu bewertenden Zuwendung bildet. Und man kann dem BGH schwerlich in der Annahme widersprechen, dass sich die Versicherungssumme nie im Vermögen und im Nachlass des Erblassers befunden hat, sondern lediglich der Anspruch, den der Erblasser zu Lebzeiten noch selbst hätte realisieren können.

    Beim Nießbrauch geht es demgegenüber nicht um den Zuwendungsgegenstand, sondern um die Abzugsfähigkeit einer Gegenleistung für die Zuwendung. Hier sagt der BGH in ständiger Rechtsprechung, dass der kapitalisierte Nießbrauch abzugsfähig ist, wenn es für die Bewertung des Grundbesitzes nach dem Niederstwertprinzip auf den Zeitpunkt der Zuwendung ankommt, dass er aber nicht abzugsfähig ist, wenn der (niedrigere) Wert des Grundbesitzes im Zeitpunkt des Erbfalls maßgeblich ist (weil der Nießbrauch dann bereits erloschen ist). Letzteres kann man kritisieren und wird in der Literatur auch kritisiert. Aus den genannten Gründen meine ich aber nicht, dass sich aus den Lebensversicherungsentscheidungen des BGH insoweit noch zusätzlicher rechtlicher Honig saugen lässt.

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