Bezugnahme auf nicht fortgeführtes preuß. Steuerkataster bei Grundbuchanlegung 1872

  • Die Grundstücke werden im Grundbuch nach den in den Ländern eingerichteten amtlichen Verzeichnissen, d.h. dem Liegenschaftskataster benannt. In Preußen ist das seit 1872 so. Das in den östlichen Provinzen gerade einmal seit 10 Jahren bestehende Steuerkataster wurde damit zum Eigentumskataster aufgewertet. Die Bezugnahme auf das Steuerkataster hat aber auch dazu geführt, dass die in seltenen Einzelfällen von der materiellen Rechtslage abweichende fehlerhafte Darstellung im bisherigen Steuerkataster zur Grundlage der neu angelegten Grundbücher wurde. Und da so recht keiner weiß, wie damit umzugehen ist, kommen solche Abweichungen bis heute vor.

    Ein Beispiel: Kurz nach Anlegung des Steuerkatasters ist die Ortslage eines Dorfes komplett abgebrannt. Nach den damaligen Bauvorschriften mussten beim Wiederaufbau größere Brandschutzabstände beachtet werden (sog. Auseinanderbau). Dazu kam es in einem behördlich geleiteten Verfahren zu einer moderaten Neueinteilung des Grundbesitzes, ähnlich einer heutigen vereinfachten Umlegung. Es gab einen Rezess und der Landrat bzw. die Provinzregierung hat den für die Bebauung vorgesehenen Neuzuschnitt der Grundstücke genehmigt. Es folgte die Abmarkung und Inbesitznahme der meist nur geringfügig neu zugeschnittenen Grundstücke. Der Eigentumsübergang war damit wirksam erfolgt, da es vor Einführung der GBO in Preußen nach dem ALR auf eine Grundbucheintragung eben noch nicht ankam. Die Katastervorschriften sahen zwar eine Fortführung des Steuerkatasters vor, diese wurde allerdings nur auf Antrag der Beteiligten vorgenommen und beschränkte sich zudem innerhalb der Ortslagen auf die Gebäudesteuerrolle. Die Katasterkarte wurde nicht fortgeführt. Zum Teil sind aber noch die für den Wiederaufbau gefertigten Planunterlagen und/oder die zugehörigen Rezesse vorhanden, etwa im Landesarchiv in Magdeburg oder im Landeshauptarchiv in Potsdam.

    Als dann nach 1872 die Grundbücher angelegt wurden, sind nicht in allen Fällen die fehlenden Fortführungen des Steuerkatasters aufgefallen. Zwar wurde in den neuen Katastervorschriften die Fortführung verpflichtend eingeführt, jedoch nicht rückwirkend. Und so kommt es hin und wieder vor, dass bis heute der rechtmäßige Besitzsstand seit den 1860-er Jahren vom Liegenschaftskataster und mithin vom Grundbuch abweicht. Grundbuch und Kataster sind quasi von Anbeginn an falsch.

    Wie kann man so etwas heute bereinigen?

    Im Vermessungsrecht könnte man die Sache als Aufnahmefehler behandeln, auch wenn zum Zeitpunkt der Aufnahme gar kein Fehler gemacht wurde. Erst durch die nicht erforderliche Fortführung ist das Kataster unrichtig geworden. Dennoch ist an eine Behandlungsweise wie beim Aufnahmefehler zu denken, da zum Zeitpunkt der Anlegung der Grundbücher nicht der rechtmäßige Eigentumszustand erfasst war. Damit ist das Grundbuchamt mit im Boot. Es wäre dann dort zu prüfen, ob nicht etwa ein gutgläubiger Erwerb nach der Liegenschaftkarte stattgefunden hat. Das wird aber in den allermeisten Fällen ausgeschlossen sein, weil die Grundstücksneuzuschnitte in ihrer Form meist sehr deutlich vom Kartennachweis abweichen und häufig die nach dem Brand errichteten Gebäude auf den alten, bis heute im Kataster nachgewiesenen Grenzen errichtet wurden. Man kann also in aller Regel davon ausgehen, dass im Falle eines rechtsgeschäftlichen Erwerbs auf den Besitzstand abgestellt wurde.

    Das Problem ist allerdings, dass die Katasterbehörden bei beabsichtigten Zerlegungsvermessungen ihre Schwierigkeiten damit haben, wenn auf jene Grenzen abgestellt wird, die zwar in der Örtlichkeit vorhanden und z.T. auch noch mit Grenzzeichen versehen sind. Stattdessen orientiert man meist auf den Katasternachweis, selbst wenn er durchgehend nicht mit dem Besitzstand übereinstimmt, wie er infolge eines Brandereignisses seit rund 150 Jahren besteht. Meist kommt es dann zu Zerlegungen und die einem eigentlich schon gehörenden Teilflächen werden erneut erworben. Das mag ja eine pragmatische Lösung sein, aber richtig kann das ja wohl nicht sein. Daher meine Frage:

    Kann man das Problem irgendwie von Grundbuchseite anpacken?

  • Falls es aber nur um Widersprüche in den Aufnahmeelementen geht, könnte vielleicht das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg 10. Senat vom 24.11.2011, OVG 10 B 14.09, weiterhelfen:

    Nein, das trifft es ganz und gar nicht. Vielleicht fasse ich den Sachverhalt nochmal ganz knapp zusammen:

    • 1862 wurde die Gemarkungsurkarte erstellt
    • 1870 ist das Dorf abgebrannt
    • 1871 wurden die Grundstücke bestandskräftig in einem gesetzlich geregelten Verfahren neu geordnet, ohne dass die Katasterkarte berichtigt wurde
    • 1872 wurde das Grundbuch für den Ort angelegt, das sich aber fehlerhaft auf den alten Flurstückszuschnitt vor der Umlegung bezog



    Es gibt den Fall auch ähnlich für frühere Brandaufbauten, indem schon bei der Erstellung des Katasters die zuvor erfolgte Umlegung übersehen wurde, als man die Separationskarten zu Katasterkarten umzeichnete.

    Wie kommt man aus dem Schlamassel raus?

  • Ich glaube zwar nicht das ich Dir helfen kann, aber interessant ist es. Für mich ergibt sich aber eine Frage: Ist die Flurstücksbezeichnung im Kataster identisch wie im Bestandsverzeichnis des GB'es? Der öffentliche Glaube des Grundbuches bezieht sich ja nur auf die Flurstücksnummer.

  • .. Der öffentliche Glaube des Grundbuches bezieht sich ja nur auf die Flurstücksnummer.

    Nicht ganz. Die Eintragung einer Flurstücksnummer im Grundbuch ist nur eine vereinfachte Bezeichnung der äußeren, aus der Katasterkarte ersichtlichen Gestalt des Flurstücks. Durch die Aufnahme der katastermäßigen Bezeichnungen werden die Grundstücke in dem Umfang, d.h. mit den Grenzen, wie sie das Kataster enthält, in das Grundbuch eingeführt. Richtigkeitsvermutung und öffentlicher Glaube beziehen sich auf die katastertechnische Bezeichnung der Grundstücke nach Gemarkung, Flur, und Flurstück und auf die Liegenschaftskarte einschließlich des Zahlenwerks insoweit, als diese die Grenzen der Grundstücke festlegen (s. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.11.2011, OVG 10 B 14.09, Rz. 39 mwN).

    Die Grundstücksgrenze weist nach gängiger Grundstücksdefintion nach, auf welchen Teil der Erdoberfläche sich die im Grundbuch eingetragenen dinglichen Rechte erstrecken (s. Holzer im Beck'schen Online-Kommentar GBO, Hrsg. Hügel, Stand: 01.02.2016, § 2 GBO RN 33). Darauf erstreckt sich sowohl die Rechtsvermutung des § 891 BGB als auch der öffentliche Glaube des Grundbuchs nach § 892 BGB (s. Holzer unter Zitat: RGZ 73, 125, 128 ff; BGH NJW 1973, 1077; DNotZ 1976, 529, 530; Rpfleger 2006, 181; OLG München NJOZ 2013, 1286; OLG Hamm RNotZ 2015, 23, 35; OLG Brandenburg NZI 2013, 774 ff; Demharter GBO § 2 Rn 26; KEHE/Keller GBO § 2 Rn 33; Holzer, Die Richtigstellung des Grundbuchs, 2005, 113 mwN zu Lit und Rspr; vgl auch Bohnert JZ 2011, 775, 779).

    Frage ist daher, welche geringfügigen Änderungen in den Grundstücksgrenzen vorgenommen wurden

    Weitere Frage ist, ob denn das Steuerkataster überhaupt noch als amtliches Verzeichnis im Sinne des § 2 Absatz 2 GBO dienen konnte, wenn eine Umlegung stattgefunden hat („1872 wurde das Grundbuch für den Ort angelegt, das sich aber fehlerhaft auf den alten Flurstückszuschnitt vor der Umlegung bezog“).

    Nach heutiger Rechtslage (§ 74 Absatz 2 BauGB) dienen Umlegungsverzeichnis und Umlegungskarte bis zur Aufnahme in das Liegenschaftskataster als amtliches Verzeichnis im Sinne des § 2 Absatz 2 GBO. Und wenn die Daten aus diesem amtlichen (Umlegungs-) Verzeichnis noch keinen Eingang in das Liegenschaftskataster gefunden haben, wären sie doch nunmehr zu übernehmen. Bis dahin kann sich die Eintragung im Grundbuch dann ja eigentlich nur auf die Angaben aus dem Umlegungsverzeichnis nebst Umlegungskarte gründen, falls diese bereits seinerzeit erstellt wurden.

    Ich muss allerdings passen, weil ich mich mit den katasterrechtlichen Bestimmungen nicht auskenne und auch nicht weiß, inwieweit die nachfolgende, die preußischen Vorschriften berücksichtigende Dissertation von Bedeutung sein kann:
    „Die Anerkennung und Feststellung von Grundstücksgrenzen – Ein Beitrag zur Entwicklung des Liegenschaftskatasters im Lande Nordrhein-Westfalen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –
    http://www.igg.uni-bonn.de/psb/uploads/tx…embold_2012.pdf)

    Lieber einen Frosch küssen als eine Kröte schlucken :)

  • Sorry, falls meine Frage den Katasterrechtlern die Haare zu Berge stehen lässt:confused:. Aber:

    Kann es sich nicht um die Berichtigung eines Zeichenfehlers handeln ?

    Eine „Umlegung“ kann es im Jahre 1872 ja noch nicht gegeben haben. Nach der oben genannten Dissertation galt seinerzeit das Reglement für die öffentlich anzustellenden Landmesser vom 02.03.1871, PrGS. S. 101, das weitgehend mit dem Reglement von 1857 übereinstimmte. § 12 wurde unverändert aus dem Feldmesserreglement von 1857 übernommen. Danach waren Verhandlungen aufzunehmen. Verfahrensvorschriften über die Vermarkung von Grundstücksgrenzen waren in den genannten Feldmesserreglements nicht enthalten; es wurden lediglich die Bezeichnung der Stationspunkte mit Pfählen und die Bildung unverrückbarer fester Punkte in den Hauptlinien und Winkelpunkten der trigonometrischen Dreiecke gefordert (§ 19). § 20 der Feldmesserreglements von 1857 und 1871 bestimmte, dass der Feldmesser überhaupt verpflichtet war, „in jedem einzelnen Falle die Maßregeln in Anwendung zu bringen, um die allgemeinste Anwendbarkeit, Deutlichkeit und dauernde Brauchbarkeit seiner Arbeit zu sichern". Dazu gehörte in erster Linie die dauernde Vermarkung der Eigentumsgrenzen. Weitere Verfahrens- und Formvorschriften für die aufzunehmenden Verhandlungen, die Vermarkung der Grundstücksgrenzen und die Behandlung streitiger Grenzen waren in den zahlreichen Bestimmungen der Grundsteuer- und Agrarverwaltung (Kap. III.1.3 und III.1.4) enthalten, da jeder Behörde gemäß § 11 der Feldmesserreglements von 1857 und 1871 vorbehalten war, über die Ausführung der unter ihrer Aufsicht zu bewirkenden Feldmesserarbeiten besondere Instruktionen zu erlassen und eine besondere technische Kontrolle der Feldmesserarbeiten anzuordnen.

    Also muss es seinerzeit doch eine Grenzverhandlung gegeben haben. Wenn ich die nachfolgend zitierten Entscheidungen richtig verstehe, wird aber die Berichtigung des Liegenschaftskatasters aufgrund von früheren Grenzverhandlungen als Berichtigung eines Zeichenfehlers angesehen.

    Die Leitsätze aus dem Urteil des OVG für das Land Nordrhein-Westfalen 7. Senat vom 12.02.1992, 7 A 1910/89 lauten:
    1. Die Berichtigung der Flurkarte, die den Grenzverlauf gegenüber der maßgeblichen Grenzfeststellung (hier Entstehungsvermessung aus dem Jahre 1864) unrichtig wiedergibt, ist die Berichtigung eines Zeichenfehlers des Liegenschaftskatasters, die einer Zustimmung der betroffenen Grundstückseigentümer nicht bedarf (gegen BGH, Urt v 01.03.73 - III ZR 69/70 -, 566 (567) - NJW 1973, 1077).
    2. Die nach § 8 Abs 1 VermKatG NW für die Führung des Liegenschaftskatasters maßgeblichen Bedürfnisse von Recht, Verwaltung und Wirtschaft verbieten es, die Berichtigung einer fehlerhaften Flurkarte von einer Zustimmung der Betroffenen abhängig zu machen.
    3. Für die Eintragung der Grenze in die Flurkarte ist allein die festgestellte Grundstücksgrenze maßgeblich. Eine zwischenzeitliche Verschiebung der Grenze durch gutgläubigen Erwerb bleibt unberücksichtigt, wenn der neue Grenzverlauf nicht festgestellt worden ist.
    4. Der gutgläubige Erwerber einer in der Flurkarte falsch eingetragenen Grundstücksfläche kann sich bei Berichtigung der Flurkarte gegen einen drohenden Rechtsverlust durch einen künftigen gutgläubigen Erwerber des Grundstückes, dem diese Fläche nunmehr in Übereinstimmung mit dem Katasterzahlenwerk wieder zugeschlagen ist, nicht erfolgreich durch Anfechtung des die Berichtigung enthaltenen Veränderungsnachweises, sondern nur mit den Mitteln des Zivilrechts schützen.

    Die Orientierungssätze aus dem Urteil des OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 20.06.2006, 3 L 52/01, lauten:
    1. Die Katasterverwaltung hat die festgestellten Grenzen solange nachzuweisen, bis durch eine Vereinbarung zwischen dem Beteiligten oder im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens geklärt ist, dass die festgestellte Grenzen durch eine andere zu ersetzen ist. (vgl. bereits OVG Greifswald NordÖR 2004, 201; vgl. auch OVG Münster NJW 1993, 217; OVG Lüneburg NVwZ-RR 2003, 617; OVG Magdeburg, B. v. 27.01.2004 - 2 L 495/03 - zitiert nach juris) (Rn.45) .
    2. Ist das Liegenschaftskataster, das aus dem Katasterzahlenwerk, dem Katasterbuchwerk und dem Katasterkartenwerk besteht, widersprüchlich, weil die maßgebliche Flurkarte fehlerhaft ist und von den für die Lage der Grenze maßgeblichen Feststellungen abweicht, so erfordert es das Bedürfnis von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, dass diese Widersprüche berichtigt werden. Dies ist entgegen der Auffassung des BGH (U. v. 01.03.1973 - III ZR 69/70 - NJW 1973, 1077) nicht von einer Zustimmung der Betroffenen abhängig zu machen. Die Ersetzung der Zustimmung ist auch aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten her unbedenklich.

    Die Kernsätze aus dem Beschluss des OVG Thüringen vom 15.05.1996, 1 EO 423/95, lauten

    „Die Grenzabmarkung selbst bezweckt nur, die katastermäßigen Aufzeichnungen über den Verlauf der Grundstücksgrenzen in die Örtlichkeit zu übertragen. Die Richtigkeit einer Abmarkung hängt somit nur davon ab, ob die abgemarkte Grenze mit den Vermessungsfeststellungen des Liegenschaftskatasters übereinstimmt; sie besagt nicht, dass die katastermäßigen Aufzeichnungen mit der wirklichen "Eigentumsgrenze" eines Grundstücks übereinstimmen. Bis zu einer zivilrechtlichen Klärung sind die geltend gemachten Zweifel an der Übereinstimmung des katastermäßig ausgewiesenen Grenzverlaufs mit den Eigentumsverhältnissen unbeachtlich.“

    Das OVG des Landes Sachsen-Anhalt führt im Urteil vom 15.09.2015, 2L138/13
    http://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/jportal/portal…aramfromHL=true
    Rz. 35 – 37 aus:
    „Durch eine solche Berichtigung von Flurstücksgrenzen werden zwar die Eigentumsvermutung des § 891 BGB und der öffentliche Glaube des Grundbuchs § 892 BGB tangiert. Dadurch wird aber nicht in Rechte der Grundstückseigentümer eingegriffen. Gemäß § 2 Abs. 2 GBO werden die Grundstücke im Grundbuch nach den in den Ländern eingerichteten amtlichen Verzeichnissen benannt (Liegenschaftskataster). Nach § 891 Abs. 1 BGB wird, wenn im Grundbuch für jemand ein Recht eingetragen ist, vermutet, dass ihm das Recht zustehe, und gemäß § 891 Abs. 2 BGB wird, wenn im Grundbuch ein eingetragenes Recht gelöscht ist, vermutet, dass das Recht nicht bestehe. Nach § 892 Abs. 1 Satz 1 BGB gilt zugunsten desjenigen, welcher ein Recht an einem Grundstück oder ein Recht an einem solchen Recht durch Rechtsgeschäft erwirbt, der Inhalt des Grundbuchs als richtig, es sei denn, dass ein Widerspruch gegen die Richtigkeit eingetragen oder die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt ist. Die Vermutung der Richtigkeit der Grundbucheintragung gemäß § 891 BGB erstreckt sich auch auf den Grenzverlauf, welcher sich aus der dem Liegenschaftskataster zugrunde liegenden Liegenschaftskarte ergibt (BGH, Urt. v. 08.11.2003 – V ZR 155.12 –, BGHZ 199, 31 [35 f.], RdNr. 11 f., m.w.N.). Der öffentliche Glaube des Grundbuchs nach § 892 BGB erstreckt sich auf die aktuelle Liegenschaftskarte und nicht auf die ihr möglicherweise zugrundeliegenden älteren Karten oder Unterlagen; nur wenn die nach außen in Erscheinung tretende Karte in sich widersprüchlich oder ersichtlich mehrdeutig ist, kann sie alleine nicht als Grundlage des öffentlichen Glaubens dienen (BGH, Urt. v. 08.11.2003, a.a.O., RdNr. 12, m.w.N.). Das Grundbuch in Verbindung mit dem Liegenschaftskataster begründet damit nur eine Eigentumsvermutung. Bei der Vorschrift des § 891 Abs. 1 BGB handelt es sich nur um eine Beweisregel (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.08.2005 – BVerwG 10 B 43.05 –, Buchholz 424.02 § 57 LwAnpG Nr. 1, RdNr. 7 in juris). Mit ihr wird kein Recht am Grundstück, sondern nur eine Rechtsvermutung begründet (vgl. Gursky, in: Staudinger, BGB, 13. Aufl., § 891 RdNr. 2). Zwar kann eine Grenzvermarkung als beurkundender Verwaltungsakt nach dem Eintritt der Bestandskraft nur im Einverständnis der betroffenen Grundstückseigentümer oder auf Grund eines zivilgerichtlichen Urteils, aus der sich die Unrichtigkeit der Grenzziehung ergibt, geändert werden; denn damit würde in das Eigentumsrecht der betroffenen Grundstückseigentümer eingegriffen, denen die Vermutungsregel des § 891 Abs. 1 BGB zur Seite steht (BVerwG, Beschl. v. 01.04.1971 – BVerwG IV B 59.70 –, DÖV 1972, 174). Anders liegt es aber bei der Berichtigung von Zeichenfehlern in der Liegenschaftskarte in Gestalt einer Anpassung der graphischen Darstellung der Flurstücksgrenzen an die Vermessungszahlen, die das Ergebnis einer im Rahmen einer Grenzverhandlung durchgeführten Vermessung sind. In diesem Fall erfolgt – wie bereits dargelegt – gerade kein Eingriff in das Eigentumsrecht der Grundstückseigentümer. Mit der Berichtigung der Liegenschaftskarte wird auch nicht in ein durch gutgläubigen Erwerb nach § 892 BGB erworbenes Eigentumsrecht eingegriffen (vgl. Staudinger § 892, RdNr. 26). Die sich aus dem Zugriff des Zivilrechts auf das öffentlich-rechtliche Liegenschaftskataster ergebenden Probleme sind auf der Ebene des Zivilrechts zu lösen (OVG BBg, Urt. v. 24.11.2011, a.a.O., RdNr. 40)…“

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  • Danke Prinz, dass war mir noch gar nicht so bewusst, dass der öffentliche Glaube des Grundbuches sich auch auf die Grundstücksgrenzen bezieht. Ich hatte bisher immer eine stärkere Trennung im Kopf. Nach der von Dir zitierten OVG (Sachsen-Anhalt vom 15.09.2015, 2L138/13) Entscheidung, bezieht sich der öffentliche Glaube nur auf die aktuelle Liegenschaftskarte, somit wäre eine Bereinigung allein Sache des Katasterbehörde und das Grundbuchamt, wird es nicht anpacken können (Ausgangsfrage).

  • Kann es sich nicht um die Berichtigung eines Zeichenfehlers handeln ?


    Nein, um einen Zeichenfehler handelt es sich hier gerade nicht. Der Zeichenfehler ist dadurch charakterisiert, dass die Katasterunterlagen den richtigen Grenzverlauf nachweisen, jedoch die abgeleitete Darstellung in der Liegenschaftskarte davon abweicht.

    Bei den Fällen, an die ich denke, gibt es meist gar keinen Zahlennachweis, sondern nur die Gemarkungsurkarte, und die Darstellung der Grenzen weicht darin von der materiellen Rechtslage zum Zeitpunkt der Grundbucanlegung ab. Katasterrechtlich würde man das als Aufnahmefehler (früher "materieller Irrtum") bezeichnen. Aber das stimmt eben nicht ganz, da zum Zeitpunkt der Aufnahme gar kein Fehler/Irrtum gemacht wurde. Der Irrtum geschah bei der Anlegung des Grundbuchs, weil sich die zwischenzeitliche Änderung der Eigentumsstruktur nicht im Steuerkataster wiederfand.

    Vielleicht muss man sich, um der Lösung des Problems näher zu kommen, vom konkreten Fall abkoppeln, der nur exemplarisch für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle uralter, nicht ins Kataster übernommener spezieller Umlegungen (die es nach Brandkatastrophen regelmäßig und verpflichtend gab) in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Vorpommern gewählt war.

    Im Kern geht es darum, dass das Steuerkataster zum Zeitpunkt der ersten Inbezugnahme durch das neu geschaffene Grundbuch vielfach nicht (mehr) aktuell war. Das konnte durch o.g. Verfahren erfolgt sein, aber auch ganz normal durch rechtsgeschäftlichen Eigentumserwerb, der eben nicht dazu führte, dass das Steuerkataster nachzuführen war. Vor der GBO wurde das preußische Steuerkataster nur auf Antrag fortgeführt. Und in Ortslagen, die gar nicht der Grundsteuer, sondern der Gebäudesteuer unterlagen, war dann (im Falle eines Antrags) nicht einmal die Gemarkungskarte fortzuführen, sondern nur die Gebäudesteuerrolle!

    Wir haben es also in erster Linie mit einem Grundbuchproblem zu tun, erst in zweiter mit einer Fragestellung des Katasters. Denn was kann das Kataster dafür, dass das Grundbuch bei seiner erstmaligen Anlegung in Preußen nahezu blind [!] auf die Richtigkeit des Katasters vertraute, ohne dass die Voraussetzungen dafür gegeben waren. Eine Überprüfung, ob der Katasterbestand noch aktuell war, fand anscheinend nicht statt. Und das Steuerkataster diente auch noch nicht als amtliches Verzeichnis, so wie wir es heute kennen. § 4 der preußischen GBO bestimmte in dieser Beziehung vielmehr nur, dass zur Ausmittelung der in die Grundbücher einzutragenden Grundstücke, ihrer Lage und Größe dem Grundbuchamt eine Abschrift der Grund- und Gebäudesteuerbücher mitgeteilt werden sollte.

    Nun stellt sich mir ganz einfach die Frage, wie das Grundbuch berichtigt werden kann, wenn jemand aus der Versenkung (oder dem Archiv) einen Umlegungsplan hervorzaubert, der die vom Kataster abweichenden, rechtswirksam geänderten Grundstücksgrenzen nachweist und damit die aus § 891 Abs. 1 BGB folgende Eigentumsvermutung widerlegt. Während das Katasteramt sich darauf zurückziehen kann, dass die "Umlegung" niemals in Kataster eingegangen und es sich daher nicht um einen zu berücksichtigenden maßgeblichen Katasternachweis handelt, muss es doch im Grundbuch nachdenklich stimmen, wenn man im Vertrauen auf die Richtigkeit des Katasters nicht den rechtmäßigen Besitzstand zugrunde gelegt hat und sich bis heute keiner herangetraut hat, die Versäumnisse bei Grundbuchanlegung zu bereinigen.

    Kann man hier nicht von Grundbuchseite eine Berichtigung unter Beteiligung der Eigentümer durchziehen?

    Ich vermute allerdings, dass die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Was aber, wenn alle Eigentümer erklären, dass sie nicht nach der falschen Liegenschaftskarte erworben haben, sondern nach Besitzstand, wie er der Neuaufteilung von vor 150 Jahren entspricht? Und scheidet die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs nicht auch dadurch aus, das alle Häuser nicht innerhalb, sondern auf den Grundstücksgrenzen stehen?

    Die Alternative, dass neue Flurstücke vermessen und gebildet werden und jeder Eigentümer die Flächen kauft/eintauscht (a la freiwillige Umlegung), die ihm seit 150 Jahren schon gehören, kann doch nicht des Rätsels Lösung sein.

  • Der BGH führt im Urteil vom 2. 12. 2005, V ZR 11/05, aus:

    § 891 I BGB knüpft die Vermutung der Rechtsinhaberschaft an die Grundbucheintragung. Da im Rechtsverkehr Klarheit darüber bestehen muss, auf welchen konkreten Teil der Erdoberfläche sich ein eingetragenes Recht bezieht, besteht heute Einigkeit darüber, dass sich die Richtigkeitsvermutung des Grundbuchs auch auf den sich aus dem Liegenschaftskataster ergebenden Grenzverlauf erstreckt …(es folgen zahlreiche Nachweise). Nach § 2 II GBO werden die Grundstücke im Grundbuch nach dem Liegenschaftskataster benannt. Der Grenzverlauf kann danach in aller Regel über die in Spalte 3b des Bestandsverzeichnisses des Grundbuchs eingetragene Parzellennummern in Verbindung mit der Katasterkarte erschlossen werden. So liegt es auch hier“…. Dass die Grenzziehung aus den Unterlagen der Steuerverwaltung in das Liegenschaftskataster ohne Überprüfung durch eine eigenständige Vermessung übernommen wurde, steht der Anwendung von § 891 BGB nicht entgegen. Für den Eintritt der Richtigkeitsvermutung sind die Umstände, die zu einer Eintragung geführt haben, ohne Belang (RGZ 73, 125 [130]). Selbst eine Verletzung von Verfahrensvorschriften im Zusammenhang mit der Grundbucheintragung lässt die Vermutung - abgesehen von hier nicht einschlägigen Nichtigkeitsfällen (vgl. Senat, BGHZ 7, 64 [69] = NJW 1952, 1289 für den Fall einer durch erhebliche Bedrohung erreichten Grundbucheintragung) - nicht entfallen (Senat, NJW 1969, 2139 = WM 1969, 1352 [1353f.]).…Zwar hat der Bekl. unter Bezug auf den Kaufvertrag aus dem Jahr 1848 nachvollziehbar dargelegt, dass die damaligen Vertragsparteien von einer Grundstücksgrenze ausgingen, die sich an der damals vorhandenen Bebauung orientierte. Diese Darlegungen lassen indessen allenfalls den Schluss zu, dass die im Zuge der Unterverteilung im Jahr 1865 festgelegte und in die Flurkarte übernommene Grenze den damaligen Eigentumsverhältnissen widersprach. Offen bleibt jedoch, ob dieser mögliche Widerspruch in der Folgezeit durch gutgläubigen Eigentumserwerb der Kl. oder ihrer Rechtsvorgänger beseitigt wurde.“

    Wie das OVG des Landes Sachsen-Anhalt im Urteil vom 15.09.2015, 2L138/13, ausführt, erstreckt sich der öffentliche Glaube des Grundbuchs nach § 892 BGB „auf die aktuelle Liegenschaftskarte und nicht auf die ihr möglicherweise zugrundeliegenden älteren Karten oder Unterlagen; nur wenn die nach außen in Erscheinung tretende Karte in sich widersprüchlich oder ersichtlich mehrdeutig ist, kann sie alleine nicht als Grundlage des öffentlichen Glaubens dienen (BGH, Urt. v. 08.11.2003, a.a.O., RdNr. 12, m.w.N.).“

    Wenn also die aktuelle, nach außen in Erscheinung getretene Liegenschaftskarte falsch ist, müsste die auch für das Grundbuchamt geltende Richtigkeitsvermutung des § 891 BGB für jeden einzelnen Fall, bei dem zwischenzeitlich ein gutgläubiger Erwerb stattgefunden haben könnte, widerlegt werden (OLG München 34. Zivilsenat, Beschluss vom 21.12.2015, 34 Wx 245/15, Rz. 19).

    Ansonsten bleibt nur der Zivilrechtsweg.

    Lieber einen Frosch küssen als eine Kröte schlucken :)

  • Wenn also die aktuelle, nach außen in Erscheinung getretene Liegenschaftskarte falsch ist, müsste die auch für das Grundbuchamt geltende Richtigkeitsvermutung des § 891 BGB für jeden einzelnen Fall, bei dem zwischenzeitlich ein gutgläubiger Erwerb stattgefunden haben könnte, widerlegt werden ...

    Wäre der gutgläubige Erwerb dann für die ganze Kette oder nur die letze rechtsgeschäftliche Eigentumsübertragung zu prüfen?
    Bzw.: Ist ein gutgläubiger Erwerb nicht von vornherein dadurch auszuschließen, dass der Besitzstand seit 150 Jahren vom Kataster/Grundbuch abweicht und die Eigentümer ihre Grundstücke niemals in dem Umfang laut Katasternachweis/Grundbuch im Eigenbesitz gehabt haben?
    Für den bei Brandaufbauten auch oft anzutreffenden Spezialfall, dass die festgelegten Baufluchtlinien und neuen Grenzen in ehemaliges Straßenland hereinragen, dürfte die Prüfung auf gutgläubigen Erwerb entbehrlich sein, oder? Denn die öffentlichen Straßenflächen sind ja nicht durch Kauf auf andere Straßenbaulastträger als spätere Eigentümer übergegangen. Oder kann man dann den Erwerbern der Hausgrundstücke unterstellen, dass sie ihr Grundstück nur in den geringeren Ausdehnungen laut Liegenschaftskarte erworben haben könnten, obwohl das Gebäude halb auf ehemaligem Straßenland steht. Sprich: Ist ein hinter den rechtmäßigen Besitzstand zurückgehender Mindererwerb dem guten Glauben zugänglich?

    Fragen über Fragen. Und kein Ende abzusehen.

  • Für den gutgläubigen Erwerb kommt es auf den ersten möglichen gutgläubigen Erwerb an. Und den kannte bereits das Gesetz über den Eigenthumserwerb und die dingliche Belastung der Grundstücke, Bergwerke und selbstständigen Gerechtigkeiten vom 05.05.1872 (§ 9 des Eigentumserwerbsgesetzes hatte folgenden Wortlaut: „Die Eintragung des Eigentumsüberganges und deren Folgen können nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes angefochten werden. Es bleiben jedoch die in der Zwischenzeit von dritten Personen gegen Entgelt und im redlichen Glauben an die Richtigkeit des Grundbuchs erworbenen Rechte in Kraft.“). Im Übrigen siehe die Ausführungen des Reichsgerichts, 5. Zivilsenat, im Urteil vom 12.02.1910, V 72/09 = RGZ 73, 125-131, denen das preußische Kataster zugrunde liegt, insbesondere auf den Seiten 130 und 131.

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