BMJ-Pressemitteilung
Berlin, 26. August 2005
Mehr Rechte für Bürgerinnen und Bürger: Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der neue Rechtsbehelfe vorsieht, wenn das gerichtliche Verfahren zu langsam ist. „Die Gerichte in Deutschland arbeiten weit überwiegend zügig und nehmen europaweit eine Spitzenstellung ein. Dennoch gibt es bei der Verfahrensdauer erhebliche regionale Unterschiede und negative Einzelfälle. Damit Bürgerinnen und Bürger in diesen Fällen ihr Recht auf ein zügiges Verfahren besser durchsetzen können, wollen wir eine Untätigkeitsbeschwerde einführen“, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.
Bislang gibt es für solche Fälle im deutschen Recht keinen speziellen Rechtsbehelf. Den Betroffenen bleibt nur, eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter oder äußerstenfalls auch Verfassungsbeschwerde zu erheben. Eine rechtliche Möglichkeit, unmittelbar auf den Fortgang eines des konkret anhängigen Verfahrens hinzuwirken, fehlt bislang.
„Dem trägt der Gesetzentwurf Rechnung - Betroffene sollen ihr Recht auf ein zügiges Verfahren innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens auch tatsächlich durchsetzen können“, unterstrich die Bundesjustizministerin.
Fallbeispiel:
Ein Bürger reicht bei einem Gericht Klage ein. Danach hört er längere Zeit nichts mehr vom Gericht. Auch seine Anfrage nach dem Sachstand bleibt erfolglos.
In einem solchen Fall kann der Bürger künftig Untätigkeitsbeschwerde bei dem Gericht erheben, bei dem sein Verfahren anhängig ist. Dieses muss sich zunächst selbst mit dem Vorwurf auseinandersetzen, es habe das Verfahren ohne sachlichen Grund nicht in angemessener Frist gefördert. Hält es die Kritik im Ergebnis für zutreffend, so muss es Abhilfe leisten und rasch Maßnahmen treffen (z.B. ein Gutachten in Auftrag geben oder einen Termin für die mündliche Verhandlung ansetzen), die einen Verfahrensabschluss in einem angemessenen Zeitrahmen erwarten lassen. Diese Maßnahmen muss es unverzüglich, spätestens innerhalb einer Frist von einem Monat nach Einreichen der Beschwerde treffen.
Hält das Gericht im Beispielsfall den bisherigen Verfahrensverlauf für sachgerecht und zusätzliche prozessfördernde Maßnahmen nicht für notwendig, kann es die Beschwerde nicht selbst zurückweisen, sondern muss sie dem nächsthöheren Gericht vorlegen. Dieses trifft dann eine abschließende Entscheidung. Ist das Beschwerdegericht der Ansicht, dass die Beschwerde begründet ist, kann es dem Ausgangsgericht eine Frist setzen, innerhalb derer wirksame Maßnahmen zur Verfahrensförderung ergriffen werden müssen.
Wichtige Anstöße zu dem heute vorgelegten Gesetzentwurf kommen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu deren Vertragsparteien auch Deutschland gehört, wird nicht nur das Recht auf ein zügiges und faires Verfahren garantiert (Art. 6 Abs. 1 EMRK), sondern auch das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK). Die Bedeutung dieses Beschwerderechts bei überlanger Verfahrensdauer hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner jüngeren Rechtsprechung stark herausgestellt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung stets den Rang der Prozessgrundrechte bekräftigt, zu denen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer gehört. Nach der Rechtsprechung beider Gerichte sind angespannte Personalsituationen bei den Gerichten nicht geeignet, um Einschränkungen des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer zu rechtfertigen. Der Staat kann sich zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereiches berufen; vielmehr muss er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden können.
Der neue Rechtsbehelf der Untätigkeitsbeschwerde stärkt dieses Recht. Gleichzeitig sind die neuen Regelungen so ausgestaltet, dass der Justiz in Deutschland keine unnötige Mehrbelastungen wegen offensichtlich unbegründeter Beschwerden aufgebürdet werden. Wird in einem nicht zu beanstandenden Verfahren Untätigkeitsbeschwerde erhoben, so kann das Gericht den Vorgang mit knapper Stellungnahme zügig an die nächsthöhere Instanz weiterleiten, und der Beschwerdeführer wird von dort ebenso knapp und unaufwändig abschlägig beschieden werden.
Den Gesetzentwurf finden Sie demnächst unter http://www.bmj.bund.de/
Zahlen und Fakten zur Dauer der gerichtlichen Verfahren in den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten:
Zivilgerichte
Bei den Zivilgerichten dauern Verfahren in der Eingangsinstanz (bundes)durchschnittlich zwar nur 4,4 Monate (Amtsgerichte) bzw. 7,1 Monate (Landgerichte). Die durchschnittliche Verfahrensdauer in den Ländern zeigt aber deutliche Abweichungen sowohl nach oben als auch nach unten. Bei den Amtsgerichten liegt die Spannweite zwischen 3,7 und 5,8 Monaten, bei den Landgerichten zwischen 5,3 und 9,8 Monaten. Fast 11 % der Prozesse vor den Landgerichten dauern im Übrigen mehr als 12 Monate und 4,7 % mehr als 24 Monate.
Verwaltungsgerichte
Erstinstanzliche Verfahren vor den Verwaltungsgerichten dauern im Bundesdurchschnitt 15,3 Monate. Diesem Bundesdurchschnitt stehen in den Ländern deutlich andere Zahlen gegenüber. Die kürzeste durchschnittliche Verfahrensdauer pro Land beträgt 3,9 Monate, die längste durchschnittliche Verfahrensdauer in einem Land 25,7 Monate. Fast 12 % der Verfahren dauern im Übrigen mehr als 24 Monate, über 10 % mehr als 36 Monate. Ähnlich Unterschiede zeigen sich bei der Verfahrensdauer vor den Oberverwaltungsgerichten als Eingangsinstanz. Hier beträgt die Durchschnittsdauer in Bezug auf das ganze Bundesgebiet 19,7 Monate. Der kürzeste Länderwert liegt demgegenüber bei 6,9 Monaten, der längste bei 46,2 Monaten. Mehr als 12 % der erstinstanzlichen Verfahren vor den Oberverwaltungsgerichten dauern länger als 24 Monate, 19 % mehr als 36 Monate.
Finanzgerichte
Die Finanzgerichte brauchen durchschnittlich 17,4 Monate für ein erstinstanzliches Verfahren. In einem Bundesland reichen aber durchschnittlich 8,2 Monate, während die Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Bundesland mit durchschnittlich 21,7 Monaten rechnen müssen. Fast 13 % der Verfahren dauern hier länger als 24 Monate, über 15 % länger als 36 Monate.